Veröffentlicht am März 21, 2024

Bewegung dient nicht primär dem Kalorienverbrauch, sondern der Aktivierung Ihrer inneren Apotheke.

  • Muskeln sind endokrine Organe, die bei Kontraktion hunderte heilende Botenstoffe (Myokine) ausschütten.
  • Diese Myokine wirken systemisch im Körper, bekämpfen Entzündungen, verbessern die Insulinsensitivität und schützen sogar das Gehirn.

Empfehlung: Fokussieren Sie auf die Qualität und Regelmäßigkeit jeder Bewegungseinheit, um gezielt diese molekularen Signale auszulösen.

Die meisten Menschen betrachten Bewegung durch eine sehr enge Linse: die der Waage. Ein anstrengendes Workout wird am Schweiß und vor allem an den auf der Uhr angezeigten verbrannten Kalorien gemessen. Das Ziel ist oft, ein Energiedefizit zu erzeugen, um Gewicht zu verlieren. Dieser Ansatz, obwohl nicht falsch, verpasst jedoch das weitaus faszinierendere und revolutionärere Bild. Er ist, als würde man ein Symphonieorchester nur nach seiner Lautstärke beurteilen und die komplexen Harmonien und Melodien völlig ignorieren.

Was wäre, wenn wir das Paradigma vollständig ändern? Was, wenn der wahre Wert von Bewegung nicht in der verbrannten Energie, sondern in der freigesetzten Information liegt? In den letzten Jahren hat die medizinische Forschung eine spektakuläre Entdeckung gemacht, die unser Verständnis von Muskeln für immer verändert: Unsere Muskeln sind keine passiven Motoren, sondern das größte endokrine Organ unseres Körpers. Sie sind eine aktive, intelligente Drüse – eine körpereigene Apotheke. Bei jeder Kontraktion, jedem Dehnen und jedem Anspannen schütten sie Hunderte von hormonähnlichen Botenstoffen aus, die sogenannten Myokine.

Diese Myokine sind die eigentliche Magie der Bewegung. Sie reisen durch unsere Blutbahn und führen einen intelligenten, molekularen Dialog mit unseren Organen – dem Gehirn, der Leber, dem Fettgewebe, den Knochen und sogar dem Immunsystem. Sie sind die Software, die durch die Hardware der Bewegung aktiviert wird. In diesem Artikel werden wir den Vorhang lüften und Ihnen zeigen, wie Sie diese innere Apotheke gezielt ansteuern. Wir erforschen die wissenschaftlich belegte Minimaldosis für maximale Wirkung, wie Bewegung die Chemie in Ihrem Gehirn neu verdrahtet und warum Ihre Insulinsensitivität der Schlüssel zur Abwehr fast aller chronischen Krankheiten ist.

Dieser Leitfaden verlagert den Fokus von „Kalorien verbrennen“ auf „Moleküle aktivieren“. Entdecken Sie die präzise Wissenschaft dahinter, wie Sie Ihren Körper von innen heraus verjüngen und schützen können.

Keine Zeit für Sport? Die wissenschaftlich belegte Minimaldosis an Bewegung für maximale Gesundheit

Der häufigste Einwand gegen ein aktives Leben ist der chronische Zeitmangel. Doch die Vorstellung, täglich eine Stunde im Fitnessstudio verbringen zu müssen, um gesundheitliche Vorteile zu erzielen, ist ein überholtes Dogma. Die Myokin-Forschung zeigt uns, dass es nicht nur um die Dauer, sondern um die Frequenz und Intensität der Aktivierung geht. Es gibt eine wissenschaftlich fundierte „minimale effektive Dosis“ an Bewegung, die bereits tiefgreifende positive Effekte auf zellulärer Ebene auslöst. Sie werden überrascht sein, wie erreichbar diese ist.

Eine bahnbrechende Metaanalyse, die die Daten von über 30 Millionen Teilnehmern zusammenfasste, kam zu einem erstaunlichen Ergebnis. Schon 75 Minuten moderate Bewegung pro Woche – das entspricht etwa 11 Minuten pro Tag – reichen aus, um das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich zu senken. Noch beeindruckender ist, dass bereits diese minimale Dosis zu einer 23%igen Reduktion des vorzeitigen Sterberisikos führt. Dies ist der Beweis, dass jede Minute zählt und der Körper schon auf kleinste Bewegungsreize mit der Produktion schützender Myokine reagiert.

Diese Botenstoffe sind so wirkungsvoll, dass sie sogar in der Onkologie eine immer größere Rolle spielen. Bewegung wird heute als komplementäre Therapie bei vielen Krebserkrankungen eingesetzt, da bestimmte Myokine das Wachstum von Tumorzellen hemmen können. Wie Prof. Dr. Wilhelm Bloch von der Deutschen Sporthochschule Köln erklärt, ist der Effekt signifikant:

Je nach Tumorart kann das Fortschreiten der Krankheit oder ein Rückfall bei Genesenen um 10 bis 40 Prozent reduziert werden.

– Prof. Dr. Wilhelm Bloch, Deutsche Sporthochschule Köln, SRF Interview 2023

Das Ziel ist also nicht, sich zu erschöpfen, sondern den Muskeln regelmäßig das Signal zur Produktion dieser heilsamen Moleküle zu geben. Die minimale effektive Dosis ist kein Kompromiss, sondern eine intelligente, wissenschaftlich fundierte Strategie für ein langes und gesundes Leben.

Die Motivations-Falle: Warum Sie Disziplin vergessen und stattdessen auf Gewohnheiten setzen sollten

Motivation ist eine launische und unzuverlässige Ressource. Sich allein auf Willenskraft und Disziplin zu verlassen, um ein regelmäßiges Bewegungsprogramm durchzuhalten, ist eine zum Scheitern verurteilte Strategie. Der visionäre Ansatz der Sportmedizin betrachtet dies anders: Statt gegen den inneren Widerstand anzukämpfen, nutzen wir die Biochemie des Körpers, um ihn zu unserem Verbündeten zu machen. Der Schlüssel liegt darin, zu verstehen, was Bewegung im Gehirn bewirkt und wie dies die Bildung von dauerhaften Gewohnheiten fördert.

Eines der wichtigsten Myokine, das bei körperlicher Aktivität freigesetzt wird, ist der Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF). Man kann es sich als eine Art Dünger für das Gehirn vorstellen. BDNF fördert das Überleben bestehender Neuronen und regt das Wachstum neuer Nervenzellen und Synapsen an, insbesondere im Hippocampus – dem Bereich, der für Lernen und Gedächtnis zuständig ist. Dieser Prozess, bekannt als Neurogenese, ist die Grundlage für die Plastizität und Gesundheit unseres Gehirns.

Diese neurochemische Belohnung ist der Grund, warum Bewegung süchtig machen kann – im positivsten Sinne. Anstatt sich zur Bewegung zu zwingen, schafft der Körper eine positive Rückkopplungsschleife. Die Ausschüttung von BDNF und anderen stimmungsaufhellenden Botenstoffen fühlt sich gut an und das Gehirn lernt, dieses Gefühl erneut zu suchen. Die Motivation kommt dann nicht mehr von einem abstrakten Ziel, sondern von der unmittelbaren, biochemischen Belohnung.

Menschliches Gehirn in Seitenansicht mit hervorgehobenem Hippocampus während körperlicher Aktivität

Wie dieses Schema andeutet, ist der Effekt tiefgreifend. Anstatt sich auf flüchtige Motivation zu verlassen, bauen Sie ein System auf, das auf der Selbstverstärkung durch Neurochemie basiert. Beginnen Sie klein, konzentrieren Sie sich auf das gute Gefühl danach und lassen Sie Ihr Gehirn die Arbeit machen, eine Gewohnheit zu formen. Dies ist der Übergang von „Ich muss“ zu „Ich will“.

Zu müde für Sport? Warum das genau der Grund ist, warum Sie sich bewegen sollten

Es ist ein weit verbreitetes Paradoxon: Man fühlt sich zu müde und energielos, um sich zu bewegen, obwohl Bewegung genau das wäre, was neue Energie liefern würde. Aus der Perspektive der Kalorienverbrennung erscheint dies unlogisch – warum sollte man Energie ausgeben, wenn die Speicher leer sind? Die Myokin-Perspektive löst dieses Rätsel auf. Müdigkeit ist oft kein Zeichen eines echten Energiemangels, sondern eines stagnierenden Stoffwechsels und einer Anhäufung entzündlicher Prozesse. Bewegung ist der stärkste bekannte Impuls, um dieses System neu zu starten.

Wenn Muskeln arbeiten, verbrauchen sie Glykogen, den gespeicherten Zucker. Dieser Verbrauch ist ein starkes Signal für den Körper. Als Reaktion darauf schütten die Muskeln eine Flut von Myokinen aus. Eines der prominentesten ist Interleukin-6 (IL-6). Während chronisch erhöhtes IL-6 mit Entzündungen in Verbindung gebracht wird, wirkt das kurzfristig durch Bewegung freigesetzte IL-6 stark entzündungshemmend. Es ist ein klassisches Beispiel für Hormesis – was in hoher Dosis schadet, ist in kleiner, akuter Dosis heilsam. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen eine bis zu 100-fache Steigerung von IL-6 im Blut während des Trainings. Dieses Molekül kurbelt den Fettstoffwechsel an und verbessert die Insulinsensitivität, was zu einer stabileren und nachhaltigeren Energieversorgung führt.

Bewegung durchbricht den Teufelskreis aus Müdigkeit und Inaktivität also auf molekularer Ebene. Sie zwingt den Körper, seine Energieverwaltung zu optimieren und schaltet die „Müdigkeitssignale“, die oft von leichten, chronischen Entzündungen ausgehen, einfach ab. Schon eine kurze, intensive Einheit kann diesen metabolischen Neustart auslösen und das Gefühl der Erschöpfung durch eines der Vitalität ersetzen.

Ihr Aktionsplan: Der 10-Minuten-Bewegungs-Snack gegen Müdigkeit

  1. Initiieren Sie den Prozess: Versuchen Sie die 3×3-Formel – bewegen Sie sich 3-mal täglich für nur 3 Minuten intensiv, um die Myokin-Produktion zu aktivieren.
  2. Leeren Sie die Speicher: Führen Sie kurze, intensive Übungen wie Burpees oder Kniebeugen durch, um die Glykogenspeicher schnell zu leeren und die Signalkaskade auszulösen.
  3. Maximieren Sie die Ausschüttung: Integrieren Sie exzentrische Bewegungen (z. B. das langsame Absenken bei einer Kniebeuge), da diese die Freisetzung von Myokinen maximieren.
  4. Nutzen Sie den Alltag: Einfaches Treppensteigen oder ein zügiger Spaziergang reichen oft schon aus, um den metabolischen Reset anzustoßen.
  5. Planen Sie die Regeneration: Denken Sie daran, dass die eigentliche Produktion der heilsamen Myokine in den Pausen nach der Belastung stattfindet.

Grün statt Grau: Warum ein Waldlauf effektiver ist als das Laufband im Fitnessstudio

Die Umgebung, in der wir uns bewegen, ist keine passive Kulisse. Sie interagiert aktiv mit unserer Physiologie und Psychologie. Während das Laufband in einem Fitnessstudio eine kontrollierte und messbare Form der Bewegung ermöglicht, bietet die Natur – insbesondere der Wald – eine Fülle von zusätzlichen Reizen, die die positiven Effekte der Bewegung auf molekularer Ebene potenzieren. Das Konzept des „Shinrin-yoku“ oder „Waldbadens“ ist mehr als nur Esoterik; es hat eine handfeste wissenschaftliche Grundlage.

Beim Laufen auf unebenem Waldboden muss der Körper ständig kleine Anpassungen vornehmen. Dies fordert die Propriozeption – die Wahrnehmung der eigenen Körperbewegung und -lage im Raum – und aktiviert eine breitere Palette von Muskelgruppen als das monotone Laufen auf einem flachen Band. Diese komplexere Muskelaktivität führt zu einer vielfältigeren und potenziell reichhaltigeren Ausschüttung von Myokinen. Darüber hinaus hat die natürliche Umgebung selbst einen direkten Einfluss auf unser Nervensystem.

Forschungen zeigen, dass der Aufenthalt in der Natur den Cortisolspiegel senkt und den parasympathischen Teil des Nervensystems aktiviert, der für Ruhe und Erholung zuständig ist. Diese stressreduzierende Wirkung macht die Zellen empfänglicher für die Signale der Myokine. Die Kombination aus körperlicher Anstrengung, die die Herzfrequenz steigert und die Sauerstoffversorgung des Gehirns verbessert, und der beruhigenden Wirkung der Natur schafft ein optimales Umfeld für die Ausschüttung und Aufnahme von BDNF und anderen neuroprotektiven Botenstoffen.

Weitwinkelaufnahme eines Läufers auf einem Waldweg umgeben von grünen Bäumen

Ein Lauf im Wald ist somit mehr als nur Sport. Es ist eine multisensorische Erfahrung, die Körper und Geist synchronisiert. Die frische Luft, die natürlichen Geräusche und die visuellen Reize des Grüns verstärken die heilsame Wirkung der Bewegung und machen sie zu einer ganzheitlichen Therapieform. Die Wahl zwischen Grün und Grau ist also auch eine Entscheidung für eine effizientere Aktivierung Ihrer inneren Apotheke.

Alles ist besser als nichts: Der 10-Minuten-Bewegungs-Snack für Tage, an denen gar nichts geht

An manchen Tagen scheint das Ziel, eine halbe Stunde oder länger Sport zu treiben, unerreichbar. Anstatt jedoch komplett aufzugeben, ist es entscheidend zu verstehen, dass selbst extrem kurze Bewegungseinheiten – sogenannte „Bewegungs-Snacks“ – einen messbaren biologischen Wert haben. Der Gedanke „Alles oder Nichts“ ist der größte Feind der Konsistenz. Die Myokin-Forschung liefert die wissenschaftliche Legitimation für das Prinzip „Alles ist besser als nichts“.

Der Schlüssel liegt darin, zu wissen, welche Art von kurzer Bewegung den größten Nutzen für ein bestimmtes Ziel bringt. Nicht alle Bewegungsformen setzen die gleiche Mischung von Myokinen frei. Die Art der Muskelkontraktion bestimmt das „Rezept“, das die Muskel-Apotheke ausstellt. Ein kurzes, hochintensives Intervalltraining (HIIT) löst beispielsweise eine andere molekulare Reaktion aus als ein paar Minuten Krafttraining oder ein zügiger Spaziergang.

Jede Trainingsform hat ihre eigene Myokin-Signatur mit spezifischen gesundheitlichen Vorteilen. Das Verständnis dieser Unterschiede ermöglicht es, selbst einen 10-minütigen „Snack“ strategisch zu nutzen, um ein bestimmtes System im Körper anzusprechen. So kann ein kurzer HIIT-Sprint gezielt die Insulinsensitivität verbessern, während wenige Minuten Krafttraining den Muskelaufbau und den Fettstoffwechsel anregen.

Die folgende Tabelle gibt einen vereinfachten Überblick, wie verschiedene Trainingsarten unterschiedliche Haupt-Myokine freisetzen und welche spezifischen Wirkungen damit verbunden sind. Wie eine vergleichende Analyse zeigt, ist die Wahl der Übung entscheidend für das molekulare Ergebnis.

Myokin-Ausschüttung nach Trainingsart
Trainingsart Hauptmyokine Spezifische Wirkung
Krafttraining (konzentrisch) IL-6, IL-15 Muskelaufbau, Fettstoffwechsel
Ausdauertraining Irisin, BDNF Fettumwandlung, Neuroprotektion
HIIT (10 Min.) IL-6, FGF-21 Insulinsensitivität, Stoffwechsel-Reset

Diese Erkenntnis ist befreiend: Sie müssen kein langes Workout absolvieren, um Ihrer Gesundheit etwas Gutes zu tun. Ein bewusster, strategisch gewählter 10-Minuten-Snack ist eine vollwertige medizinische Intervention auf molekularer Ebene.

Sport auf Rezept? Warum Joggen bei leichten Depressionen so wirksam sein kann wie ein Antidepressivum

Die Vorstellung, dass Bewegung eine wirksame Behandlung bei psychischen Erkrankungen sein kann, gewinnt in der Medizin rasant an Boden. Insbesondere bei leichten bis mittelschweren Depressionen zeigen sich Effekte, die mit denen einer medikamentösen Therapie vergleichbar sind. Dies ist keine Anekdote, sondern das Ergebnis solider klinischer Forschung. Die Wirkung geht weit über eine simple „Ablenkung“ hinaus; Bewegung greift direkt in die neurochemischen Prozesse ein, die bei einer Depression fehlreguliert sind.

Die Wirkung von Antidepressiva beruht oft darauf, die Verfügbarkeit von Neurotransmittern wie Serotonin im Gehirn zu erhöhen. Bewegung erreicht ein ähnliches, aber potenziell breiteres Ziel durch die Ausschüttung von Myokinen. Wie bereits erwähnt, ist BDNF ein Schlüsselmolekül. Bei Menschen mit Depressionen ist der BDNF-Spiegel oft nachweislich erniedrigt. Sport erhöht die BDNF-Konzentration auf natürliche Weise und fördert so die Neurogenese und neuronale Plastizität – im Wesentlichen repariert und stärkt das Gehirn sich selbst.

Die Wirksamkeit dieses Ansatzes wurde in beeindruckenden Studien nachgewiesen, die Bewegung direkt mit Standardtherapien vergleichen.

Fallstudie: Sport vs. Antidepressiva

In einer wegweisenden amerikanischen Studie mit über 200 depressiven Patienten wurde die Wirkung von Sport direkt mit der von Antidepressiva verglichen. Eine Gruppe absolvierte dreimal pro Woche ein moderates Training auf dem Laufband, während eine andere Gruppe ein Antidepressivum einnahm. Das Ergebnis war erstaunlich: Die Gruppe, die Sport trieb, zeigte einen Rückgang der depressiven Symptome, der sogar größer war als bei den Teilnehmern, die ausschließlich medikamentös behandelt wurden. Dies untermauert die These, dass Bewegung eine vollwertige, eigenständige Behandlungsoption darstellt.

Diese Erkenntnisse plädieren dafür, Bewegung nicht nur als Prävention, sondern als aktive Therapieform zu betrachten – ein „Rezept“, das ohne Nebenwirkungen auskommt und gleichzeitig den gesamten Körper stärkt. Es ist ein Paradigmenwechsel von einer rein psychopharmakologischen zu einer ganzheitlichen, psychosomatischen Behandlung.

Der Master-Hebel Ihrer Gesundheit: Warum Ihre Insulinsensitivität über fast alle chronischen Krankheiten entscheidet

Im Zentrum fast aller modernen Zivilisationskrankheiten – von Typ-2-Diabetes über Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zu bestimmten Krebsarten und sogar Alzheimer – steht ein gemeinsamer Nenner: die Insulinresistenz. Wenn unsere Zellen nicht mehr richtig auf das Hormon Insulin ansprechen, führt dies zu einem chronisch erhöhten Blutzuckerspiegel, systemischen Entzündungen und einer Kaskade von Stoffwechselstörungen. Die Verbesserung der Insulinsensitivität ist daher der vielleicht mächtigste einzelne Hebel, um unsere langfristige Gesundheit zu sichern. Und der effektivste Weg, diesen Hebel zu betätigen, ist die Aktivierung der Muskel-Apotheke.

Muskeln sind die größten „Zuckerverbraucher“ im Körper. Wenn sie arbeiten, nehmen sie Glukose aus dem Blut auf, um Energie zu gewinnen. Dieser Prozess kann sogar unabhängig von Insulin stattfinden. Jede Muskelkontraktion wirkt wie das Öffnen einer Tür für den Zucker im Blut, was den Blutzuckerspiegel auf natürliche Weise senkt. Gleichzeitig senden die arbeitenden Muskeln über Myokine Signale an den Rest des Körpers. Das bereits erwähnte IL-6 agiert hier als eine Art metabolischer Energie-Sensor. Seine Produktion steigt proportional zum Glykogenverbrauch in den Muskeln. Dieses Signal informiert den Rest des Körpers, insbesondere die Leber, mehr Energie in Form von Glukose freizusetzen und gleichzeitig die Fettverbrennung zu steigern.

Diese akute Reaktion hat einen langfristigen Trainingseffekt: Regelmäßige Bewegung macht die Zellen im ganzen Körper wieder empfindlicher für Insulin. Der Körper muss weniger Insulin produzieren, um den Blutzucker zu regulieren, was die Bauchspeicheldrüse entlastet und den Teufelskreis der Insulinresistenz durchbricht. Eine gute Insulinsensitivität bedeutet eine effiziente Energieverwaltung, weniger Entzündungen und ein dramatisch reduziertes Risiko für chronische Krankheiten. Sie ist das Fundament eines gesunden Stoffwechsels.

Die Kontrolle über die Insulinsensitivität liegt also buchstäblich in unseren Muskeln. Jede Bewegungseinheit ist eine direkte Investition in die Prävention von Krankheiten, die unser modernes Leben dominieren. Es geht nicht um Ästhetik, sondern um die grundlegende Funktion unseres Stoffwechsels.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Muskeln sind ein endokrines Organ, das bei Aktivität heilende Myokine freisetzt.
  • Schon minimale Bewegungseinheiten (ca. 11 Min./Tag) haben einen signifikanten gesundheitlichen Nutzen auf molekularer Ebene.
  • Bewegung ist eine wirksame Intervention bei Stoffwechselerkrankungen und psychischen Problemen wie Depressionen, oft vergleichbar mit Medikamenten.

Laufen statt grübeln: Wie Bewegung die Chemie in Ihrem Gehirn verändert und Ihre Stimmung hebt

Wir haben die tiefgreifenden, systemischen Effekte der Myokine auf chronische Krankheiten und den Stoffwechsel beleuchtet. Doch eine der unmittelbarsten und spürbarsten Wirkungen von Bewegung findet in unserem Kopf statt. Das Gefühl der geistigen Klarheit, der gehobenen Stimmung und der reduzierten Angst nach dem Sport ist kein Zufall, sondern das direkte Ergebnis einer veränderten Gehirnchemie. Das „Laufen statt Grübeln“ ist ein Ausdruck dieser mächtigen biochemischen Verschiebung.

Wenn wir uns bewegen, setzen die Muskeln Myokine wie BDNF frei, die, wie wir gesehen haben, die neuronale Gesundheit fördern. Gleichzeitig werden aber auch Endorphine ausgeschüttet, körpereigene Opioide, die schmerzlindernd und euphorisierend wirken – das bekannte „Runner’s High“. Diese Kombination aus langfristiger struktureller Verbesserung (BDNF) und kurzfristiger Stimmungsaufhellung (Endorphine) ist unschlagbar. Bewegung bekämpft Grübeln und negative Gedankenspiralen auf zwei Ebenen: Sie unterbricht sie im Moment durch den Fokus auf die körperliche Anstrengung und verändert langfristig die neuronale Architektur, die sie aufrechterhält.

Dieser Paradigmenwechsel – weg von der reinen Kalorienverbrennung hin zur bewussten Aktivierung der Muskel-Apotheke – ist der Kern einer modernen, aufgeklärten Gesundheitsvorsorge. Es geht darum, Bewegung als Information zu verstehen, als eine Sprache, mit der wir gezielt mit unserem Körper kommunizieren können, um Heilung, Resilienz und Wohlbefinden zu fördern. Jede Treppe, jeder Spaziergang, jede Kniebeuge ist eine Gelegenheit, ein Rezept für die eigene Gesundheit auszustellen.

Betrachten Sie von nun an jede Bewegung als eine bewusste Entscheidung für Ihre Gesundheit auf molekularer Ebene. Beginnen Sie noch heute damit, Ihre körpereigene Apotheke gezielt zu nutzen, um nicht nur Ihren Körper, sondern auch Ihren Geist zu stärken.

Fragen und Antworten zu Myokinen und Bewegung

Welche Sportarten sind bei Depression am wirksamsten?

Metaanalysen zeigen, dass verschiedene Sportarten eine Wirksamkeit aufweisen, die mit Antidepressiva vergleichbar ist. Insbesondere Krafttraining, Ausdauertraining wie Joggen und auch Yoga haben sich als sehr effektiv erwiesen. Die beste Sportart ist letztlich die, die man gerne und regelmäßig ausübt.

Wie schnell wirkt Sport auf die Stimmung?

Einer der großen Vorteile von Bewegung ist die unmittelbare Wirkung. Durch die akute Ausschüttung von Endorphinen und Myokinen kann sich die Stimmung oft schon während oder direkt nach einer einzigen Einheit heben. Im Gegensatz dazu benötigen Antidepressiva oft Wochen bis Monate, um ihre volle Wirkung zu entfalten.

Muss es intensives Training sein?

Nein, absolut nicht. Auch moderate Bewegung ist hochwirksam. Regelmäßige, 30-minütige Spaziergänge reichen bereits aus, um die Produktion von BDNF und anderen stimmungsaufhellenden Myokinen signifikant zu aktivieren. Konsistenz ist weitaus wichtiger als maximale Intensität.

Geschrieben von Jonas Keller, Jonas Keller ist Sportwissenschaftler und zertifizierter Personal Trainer mit 8 Jahren Erfahrung im Hochleistungs-Coaching. Er ist spezialisiert auf evidenzbasiertes Krafttraining und die Optimierung der körperlichen Leistungsfähigkeit.